Kleine Auszeiten in der Zeit-Edition


Die ZEIT macht auch Bücher. Ich bin mit vier Geschichten in der ZEIT-Edition „Kleine Auszeiten in Deutschlands Norden“ vertreten und war in der Lüneburger Heide, im Wendland, an der Elbe und an der Ilmenau unterwegs. Die Kollegen und Kolleginnen waren an Nordsee und Ostsee, in Mecklenburg-Vorpommern, in und um Bremen, Hamburg und Hannover: immer draußen, immer in der Natur. Da kann der Frühling kommen.

 

Das letzte Eis

Zwei Welten im Wandel


Gletscher ziehen sich zurück, Meereis schmilzt früher als sonst oder bildet sich gar nicht erst. Niemand erlebt diese Veränderungen so unmittelbar wie die Menschen, die dort leben. Bergbauern in der Schweiz, die Yupik auf einer unwirtlichen Insel mitten in der Beringsee. Der Fotograf @manoloty und die Autorin @anne__steinbach sind für das @klimahaus.bremerhaven in die Schweiz und nach Alaska gereist, um sich direkt vor Ort ein Bild von den Auswirkungen des Klimawandels zu machen. In ihrem Buch „Das letzte Eis“ tauchen sie ein in die archaische Welt der Yupik in der Beringsee und das raue Leben der Bergbauern in der Schweiz. Das Leben der Yupik war immer untrennbar mit dem Eis verbunden. Wenn das Meer nicht mehr zufriert, können sie nicht mehr jagen, ist ihre Identität bedroht. Die Fotos von Manolo Ty fangen die Weite der Eiswelt beeindruckend ein. Das blaue Licht, wenn es kaum hell wird. Porträts der Alten, die ihr Wissen an die junge Generation weitergeben: wie man fischt, wie man die Wolken und die Wellen liest. Wie man Respekt vor der Natur hat. Anne Steinbach schreibt authentisch über ihre Begegnungen mit den Menschen und die wissenschaftlichen Hintergründe des Klimawandels. Wie immer stärkere Stürme mit dem schmelzenden Eis zusammenhängen. Über den Kreislauf im Meer, das auch so hoch im Norden immer wärmer wird. Und in der Schweiz? Wenn der Permafrost taut, löst sich verstärkt Steinschlag. Gletscher verlieren weiter an Volumen. Flüsse im Tal werden weniger gespeist. Auch hier eine fragile Welt. Das Buch zeigt die Älpler beim Sensen der steilen Hangwiesen und beim Käsen . „Betrufer“, die abends ihren Segen zu den gegenüberliegenden Gipfeln rufen. Erschienen @reisedepeschen, ein unabhängiger Verlag in Berlin, der bekannt ist für seinen besonderen Blick auf die Welt und die wunderschöne Ausstattung seiner Bücher. Die Fotos sind noch bis zum 30.12.22 in einer außergewöhnlichen Ausstellung im Klimahaus Bremerhaven zu sehen.

 

Sie wäre König


Gbeesa ist eine Hexe – sagen die Bewohner ihres Dorfes in Liberia und verbannen die 13jährige in den Wald. Dort hat sie allein keine Chance zu überleben. Aber: Gbeesa kann nicht sterben. Norman lebt mit seiner Mutter auf Jamaica im Haushalt eines gewalttätigen britischen Forschers. Der Junge kann sich unsichtbar machen und hat von einem afrikanischen Land gehört, in dem alle frei sind. June lebt auf einer Plantage in den amerikanischen Südsaaten. Als Baby wird er seiner Mutter geraubt, die fortan als Wind die Seiten dieses Buches durchweht. Mal sanft, mal bestimmt, immer weise und tröstend. June besitzt unermessliche Kräfte, ihm gelingt die Flucht von der Plantage. Durch Zufall landet er auf einem Schiff nach Liberia. Dort kreuzen sich die Lebenswege der drei jungen Erwachsenen, verlorene Seelen mit übernatürlichen Kräften. Immer noch ziehen Sklavenjäger durch die Wälder und überfallen Dörfer. Der junge Staat Liberia wagt hoffnungsvoll die ersten Schritte in eine ungewisse Zukunft. Und stolpert bald. Zu unterschiedlich sind die Interessen der einzelnen Bevölkerungsgruppen. Zu skrupellos die angrenzenden Kolonialmächte, die nichts als ihre Macht verfolgen. Gbeesa, Norman und June kämpfen für ihr junges, neues Land, das tief in seiner uralten Geschichte verwurzelt ist. 
Die Autorin Wayétu Moore schreibt so anders, so magisch und poetisch, dass ihr Buch verzaubert und das trotz des unendlich schwierigen, oft traurigen Themas. Sie verwebt verschiedene Zeitebenen, Schauplätze und Lebensläufe, eine Welt und ihre Geschichte, die mich brennend interessiert. Sie schreibt über unsagbar Grausames und überirdisch Schönes. Sie verliert die Hoffnung nicht. 
Die Autorin stammt aus Liberia, von wo sie als Kind mit ihrer Familie vor dem Bürgerkrieg floh. Heute lebt sie in den USA. „Sie wäre König“ erschien im Akono Verlag, ein junger Verlag mit Schwerpunkt auf afrikanischer Literatur. 

In neuem Licht


„In neuem Licht“, Romanminiaturen von Tanja Schwarz, und jede von ihnen gibt Einblick in ein Leben, das man nicht vergisst. Die Geschichten sind erschütternd gut geschrieben, Gefühle, die jeder kennt, der Kinder, Ex-Partner oder Eltern hat, also jeder, so gut ausgedrückt, wie man es selber niemals könnte. Das Leben ist brüchig, im Gespräch zu bleiben, schwer. Beziehungen sind zu Ende, Kinder wenden sich ab, verschwinden für Monate hinter ihrer Zimmertür. Einsamkeit frisst sich ins Leben. Loszulassen ist genauso schwer wie den eigenen Weg zu finden. Geld ist nie da. Ganz normale Leben, womöglich in der Wohnung nebenan. Und auch, wenn die Lebenswege vielleicht ganz andere sind als der eigene, sind sie literarisch so gut beschrieben, dass man jede Regung verstehen kann. Sogar wenn sich eine Frau in der eigenen Wohnung unterm Bett versteckt und dort den gefälschten Pass ihres Liebhabers findet. Das ist hohe Kunst. Jede Geschichte für sich ist vollendet, aber ich hätte trotzdem gern gewusst, wie es bei den einzelnen Protagonisten weitergeht. Denn das ist vielleicht das Versöhnliche und Optimistische an dem Buch: Es geht immer weiter, die Frauen sind so viel stärker, als sie denken. Auch wenn einer Mutter in den Schweizer Bergen fast das Herz bricht, weil die Tochter lieber zurück zu ihrem Vater und seiner neuen Familie möchte, als mit ihr Ski zu fahren. Aber es bricht eben nur fast. Erschienen bei hanserblau.

Der gefrorene Himmel


Das Buch habe ich bis halb drei Uhr nachts in einem Rutsch durchgelesen. Das ist mir schon lange nicht mehr passiert. „Der gefrorene Himmel“ hat mir das Herz zerrissen ~ und wieder zusammengesetzt. Es legt den Finger in Kanadas tiefe Wunde. Saul wird als kleiner Junge seinen indigenen Eltern weggenommen und in eine resedential school gesteckt. Von katholischen Geistlichen mit Eiseskälte betrieben wurden die Kinder dort gebrochen. Sie sollten assimiliert werden, durften ihre Namen nicht behalten, ihre Sprache nicht sprechen. Wer sich wehrte, erlitt Schlimmes. So wie Saul ist es unzähligen Kindern indigener Herkunft ergangen. Saul vermisst die Natur, in der er vorher mit seiner Familie gelebt hat, die Legenden, die seine Großmutter ihm erzählt hat, die Seen und Wälder. Im Internat fügt er sich still. Seine Flucht ist das Eishockeyfeld. Er besitzt ein begnadetes Talent für diese kanadischste aller Sportarten. Wenn er über das Eis fliegt, die arktische Luft atmet, kann er den Rest der Welt vergessen. Aber diese Strategie funktioniert nur auf der Eisfläche. Selten habe ich so grandiose Naturbeschreibungen gelesen, die sofort große Sehnsucht nach Kanada wecken. Es ist aber auch ein Eishockeybuch, eine Sportart, über die ich nichts weiß, die mich nicht besonders interessiert: Hier habe ich jede Zeile verschlungen. Dieses Buch, das im Original Indian Horse heißt, ist völlig unpathetisch und dabei voller Poesie. Es ist rasant und lakonisch, still und verstörend und schließlich versöhnlich. Es ist große Literatur. Ich möchte jedes Buch des Autors Richard Wagamese lesen. Kanada ist dieses Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse.

Der Salzpfad


Ich habe @cafeparishamburg den Salzpfad zu Ende gelesen 🌊🐦. Raynor und Moth Winn haben ihre Farm verloren, bei Moth wurde eine unheilbare Krankheit diagnostiziert. Sie können sich mit beidem nicht abfinden, schon gar nicht damit obdachlos zu sein, und wandern einfach los. Der South West Coast Path ist wild, steil und zerklüftet. Das Meer donnert an die Klippen, Möwen schreien und die Brombeeren schmecken salzig. Ray und Moth campen wild, sie kochen sich hauptsächlich Nudeln, zu mehr reicht das Geld nicht 🏕 🍃. Sie sind untrainiert und nicht gut ausgerüstet, sie sind traurig und unsicher, anfangs schaffen sie nur wenige Kilometer am Tag. Aber sie spüren, schmecken, riechen die Natur. Sie halten zusammen. Sie schwimmen im kalten Meer. Schritt für Schritt nähern sie sich ihrem Ziel, von dem sie noch gar nicht wissen wie es aussieht. Eine wahre Geschichte, erschienen im DuMont Reiseverlag 💨🐑

Lesen mit Hund

Lesen mit Hund 🐕 📖. Dabei im Gras sitzen, dem Kuckuck zuhören und den Kranichen. Ich freue mich immer schon auf den nächsten Band meiner Lieblingskrimireihe aus Kanada 🍁 🇨🇦 . „Unter dem Ahorn“ spielt in einem entlegenen Kloster, hoch oben im Norden von Quebec an einem einsamen See. Die Mönche singen gregorianische Choräle, göttliche Musik, die sie alle verbindet. Sie bauen Gemüse an, versorgen sich selbst, eine autarke Gemeinschaft hinter uralten Mauern 🎶 🐓. Als einer der Mönche umgebracht wird, kann der Mörder nur einer von ihnen sein. Trotz Intrigen und Totschlag eine Liebeserklärung an die Musik, die kanadische Wildnis, an das einfache Leben und Heidelbeeren in dunkler Schokolade. Inspektor Gamache ermittelt mit Scharfsinn und Empathie, nur mein Lieblingsdorf Three Pines spielt diesmal leider keine Rolle. Im Herbst wieder, dann erscheinen die nächsten beiden Bände im Kampaverlag  📚🌺

Im Apfelhimmel


Ich habe natürlich gleich an „Altes Land“ von Dörte Hansen gedacht, ein absolut grandioses Buch, das genau hier spielt. Eine Ostpreußin strandet nach dem Krieg mit ihrer kleinen Tochter auf einem Hof im Alten Land. Jahrzehnte später zieht eine junge Frau mit ihrem Sohn aus Hamburg-Ottensen hieraus aufs Dorf. Beide Fluchtgeschichten hängen zusammen. Dabei ist das Buch manchmal so lustig, dass man beim Lesen laut lacht. Und dann wieder so traurig, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. In den alten, prächtigen Höfen gibt es eine kleine Seitentür, die nur geöffnet wurde, um den Sarg hinauszutragen. Der Kindergarten auf dem Land unterscheidet sich von der Frühförderung in Ottensen erheblich. Die Bauern haben mit Bio nicht so viel am Hut, wie es sich der Städter in seinen Landlustträumen wünscht. Und die Tochter der Ostpreußin reitet, mittlerweile betagt, jeden Tag wieder über den Sandstreifen, den ihr Nachbar, auch jeden Tag, feinsäuberlich harkt 🐓🌻. Vom Gefühl, nirgendwo richtig hinzugehören und letztlich doch seinen Platz zu finden. Erschienen im Penguin Verlag 🌺 🍏 

Dunkelnacht


16 Tote und kein Mörder. Sie haben nur ihre Pflicht getan, Verantwortung für ihre Taten tragen sie keine. Später werden sie alle freigesprochen. 
Es ist unfassbar, was am 28. April 1945 und der darauffolgenden „Dunkelnacht“ in Penzberg, einer bayerischen Kleinstadt, passiert. Nur noch eine Frage von ein, zwei Tagen, bis die Amerikaner kommen, bis wieder Freiheit herrscht. Marie ist 14, ihr Vater legt schon die weißen Bettlaken zurecht, um sie dann aus dem Fenster zu hängen. Nur sagen darf man es noch nicht, denn noch ist das Wehrkraftzersetzung. Sie erzählt es auch nur Schorsch, dem 15jährigen Sohn des Polizisten. 
Ein Wehrmachtstrupp kommt auf seinem Marsch zur Alpenfestung durch den Ort und sorgt auf gnadenlos brutale Weise für Nazirecht und -ordnung, nimmt an der andersdenkenden Ortsbevölkerung Rache für den verlorenen Krieg. Marie und Schorsch, die gerade dabei sind, sich ineinander zu verlieben, sehen Dinge, die kein Kind auf der Welt jemals sehen sollte. 
Harter Tobak für ein Jugendbuch. Ein schmaler Band, ein Meisterwerk, das Unbeschreibliche so lakonisch, schnörkellos und altersgerecht zu beschreiben. Kirsten Bode beschönigt nichts, denn es gibt nichts zu beschönigen: Es handelt sich um einen wahren Vorfall, die Dunkelnacht hat wirklich stattgefunden. Einen Tag später haben die Amerikaner Penzberg erreicht, hat sich Hitler im fernen Berlin erschossen. 
Ähnlich wie „Der Junge im gestreiften Pyjama“ oder „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ ein Buch, das Jugendlichen einen literarischen Zugang zu finstersten Zeiten gewährt. So geschrieben, dass es auch den erwachsenen Leser berührt. Lest es zusammen mit euren Kindern, auch das Nachwort, danach besteht Gesprächsbedarf. Erschienen in der Verlagsgruppe Oetinger.

Lesen im Schnee


In diesem Buch ist es so kalt, dass Menschen es nicht lange draußen aushalten ❄️💨. In den Wäldern der sibirischen Taiga lebt eine Mutter mit ihrer Tochter in einer Hütte, und jetzt im Winter sind sie nah am Verhungern, obwohl beide gute Jägerinnen sind 🌲🦌. 
Durch die Wälder streift die Gräfin, eine sibirische Tigerin, die ihre beiden Jungen durchbringen muss. Dabei geht sie zielgerichtet und gnadenlos vor, das ist ihre Natur. Aber auch sie ist entkräftet.
Die endlose, weite, weiße, vor Kälte klirrende Natur ist überwältigend, ein großartiges Tableau für ein Drama, für Einsamkeit, für große Liebe. Denn noch die Pfade anderer Menschen kreuzen sich hier, bevor sie wieder zugeschneit werden. Von Frieda, die zwei Tigerjunge aus einem englischen Zoo zur Auswilderung nach Sibirien begleitet. Und von Tomas, der mit seinem Vater in den Wäldern ein Schutzgebiet für Amur-Tiger aufbaut. 
Wenn der Tiger auftaucht, verstummt der Wald, aber man hört ihn nicht. Ich habe selten so beeindruckende Naturbeschreibungen gelesen. Bei mir hat Polly Clark damit große Ehrfurcht geweckt. Ich habe das Buch mit raus zum Schlittschuhlaufen genommen und abends vorm Kamin weitergelesen 📖⛸. Ich hätte es gerne noch den ganzen Winter weitergelesen, aber leider, leider war es irgendwann zu Ende. Erschienen im Eisele Verlag ❄️ 🐅 

Bären füttern verboten


Es gibt Bücher, auf die freue ich mich den ganzen Tag, dass ich sie abends weiterlesen kann. Mit diesem Buch ging es mir so. Sydney ist Freerunnerin, sie klettert auf Häuser, springt von Dach zu Dach 🏠 🍃. Am Boden rennt sie, versucht sich frei zu rennen, rennt um ihr Leben. Sie rennt einer Schuld davon, die sie gar nicht trifft und das ist das Tragische an ihrer Geschichte 🏃‍♀️ . Nach 30 Jahren kehrt sie nach St. Yves zurück, ein malerischer Ort an der englischen Küste, wo sie als Kind mit ihrer Familie die Ferien verbracht hat. Schon lange habe ich kein Buch mit so eigener Sprache gelesen. Rachel Elliot zeichnet Bilder, die Gemütszustände treffen, Bären füttern ist eines davon 🐻 🎂 . Glasklar und poetisch, nüchtern und sentimental. Die Schriftstellerin hat eine Gabe, die Perspektive zu wechseln, und dadurch eine Geschichte auf viele Arten zu erzählen. Einer Tochter fehlt die Mutter anders als dem Vater. Eine Freundin möchte mehr Nähe als ihre Gefährtin. Ein Hund erschnuppert die Stimmung von Menschen. Belle arbeitet in einer Buchhandlung und führt das Hängebauchschwein ihrer Nachbarin aus. Ihr Kollege trägt gerne Frauenkleider und steht eines Tages dazu 💃🍻. Ihre Mutter möchte sich aus ihrer Ehe befreien. Jeder trägt sein eigenes, kleines Schicksal mit sich herum. Und immer rauscht das Meer 🌊 🐦 . Die Dialoge sind meisterhaft, sogar Tote haben eine Stimme. Das Buch ist voller Wärme und Empathie, Geist und Humor, Wahrheit und Hoffnung. Es ist ein Glücksbuch 📖🍀. Erschienen im mare Verlag.

Von Karen Köhler | Hanser Verlag

„Miroloi“


Die junge Frau ist ohne Namen aufgewachsen. Als Baby wurde sie in einer Pappschachtel vor die Stufen des Bethauses gelegt. Seitdem ist sie in dem Dorf auf einer einsamen Insel im Meer an allem Schuld, was schief geht. Frauen haben in dieser archaischen Gesellschaft sowieso keine Rechte, aber das Mädchen ohne Namen hat noch weniger als das. Wer sich nicht an die Regeln hält, dem droht nackte Gewalt.

Wer aus den Bergen runter ans Meer möchte, wird vom Wächter abgefangen und im Dorf an den Pfahl gestellt. Dort geschieht Schlimmeres. Auf den ersten Blick aber herrscht Dorfidyll. Es werden Oliven geerntet, in den Bergen duftet es nach wilden Kräutern, die Frauen backen gemeinsam Brot und unten schimmert dunkelblau das Meer.

Das Mädchen ohne Namen hat zwei sehnliche Wünsche. Es möchte wissen, wer seine Mutter ist und es möchte lesen lernen. Als ihr Ziehvater es ihr im Geheimen beibringt, eröffnet sich ihr eine neue Welt. Sie bricht aber nicht nur diese Regel, sondern sie verliebt sich auch. Ihr als Rechtlose steht das nicht zu, aber sie und ihr Geliebter übertreten das Verbot.

Eingebettet ist diese dramatische Geschichte in ein Inselidyll, eine griechische Insel, es ist nicht ganz klar, wann. Aber es ist gleichzeitig ein mythischer Ort, der überall sein könnte, wo die Stärkeren die absolute Macht über Schutzlose haben. Das war in grauer Vorzeit so und in vielen Teilen der Welt ist es immer noch so. Die Kapitel sind als Verse überschrieben, vielleicht eine Hommage an Homer, den Vater aller Epen, dessen Geschichten auf den griechischen Meeren spielen. Dieses Buch hat mich zum Weinen gebracht, das ist mir bisher nicht bei vielen Büchern passiert. Aber es ist auch ein Buch der Hoffnung, die Sprache von Karen Köhler ist stark und wunderschön. Die Ausstattung des Buchs ist eine Augenweide, preisgekrönt. Ich habe es nicht mehr aus der Hand gelegt.

Von Louise Penny | Kampa Verlag

„Wenn die Blätter sich rot färben“


Auf meinen Touren habe ich immer ein Buch im Rucksack. Heute: Wenn die Blätter sich rot färben. Ich liebe diese kanadische Krimireihe von Louise Penny. Weil ich großer Kanadafan bin; weil die Bücher in den Wäldern von Quebec spielen. Weil dort ein kleines Dorf liegt, Three Pines, und ich am liebsten dorthin ziehen würde. Weil die Charaktere umwerfend sind: eine verrückte Dichterin, Künstler, eine Buchhändlerin, Inspector Gamache natürlich und sein Assistent Beauvoir. Weil im Dorfbistro zwei Kamine knistern und ständig gekocht und gegessen wird. Weil die Wälder rot leuchten, nicht nur nachts undurchdringlich sind, und dort eine einsame Blockhütte steht. Gut, einen kaltblütigen Mord gibt es auch und wie es sich für einen raffinierten Krimi gehört, sind mehrere Dorfbewohner verdächtig. Ich habe das Buch bis tief in die Nächte verschlungen, jetzt freue ich mich schon auf den nächsten Band: Er erscheint Ende September @kampaverlag

Von Jane Austen | S. Fischer Verlag

„Emma“


Ich denke immer noch über Emma nach. Erzählt das Buch mehr als von Teestunden, gegenseitigen Besuchen mit der Kutsche, herrschaftlichen Anwesen und Geplauder? Ja, das tut es. Es zeigt die Rolle der Frau, die in Emmas Gesellschaftsschicht, wenn auch privilegiert, nicht viel darf. Nicht studieren, nicht arbeiten, am besten nicht zu viel denken. Dafür: Klavier spielen, besser noch Harfe, sticken, zeichnen, heiter sein. Kein Wunder, dass die intelligente Emma unterfordert ist und viel Energie darauf verwendet, ihre Freundin unter die Haube zu bekommen. Denn einer unverheirateten Frau von Stand bleibt, wenn sie nicht vermögend ist, nur der Weg, Gouvernante zu werden. Kein Wunder, dass das große Ziel immer die Hochzeit ist. Nur bei Emma selbst nicht, sie ist reich genug und liebt ihre Unabhängigkeit. Für die damalige Zeit ganz außergewöhnlich. In dem Buch steckt daher viel: erste Emanzipationsschritte, klitzekleine, vorsichtige Öffnung der Klassenschranken, Einblicke in das unglaubliche, englische Gesellschaftsgespinst, Gespenst. Viel aus der Zeit steckt noch im England von heute, nicht nur der afternoon tea. Emma wächst einem trotz, vielleicht wegen ihrer Fehler, ans Herz. Sie ist liebenswert und selbstkritisch. Das Buch ist nicht umsonst ein Klassiker, die Sprache wunderschön, die Beobachtungen sind scharf, aber nie boshaft. In der englischen Landschaft wachsen Rosen und Obstbäume, sie ist grün und hügelig, ab und zu reitet jemand vorbei. Ich lese solche Bücher zwischendurch sehr gerne. Auf den ersten Blick nostalgisch, erzählen sie uns doch weit mehr, wenn man aufmerksam liest. Diese Ausgabe ist außerdem ein Schmuckstück, mit rosa Leinenrücken und grünem Schuber musste ich sie einfach haben. Dazu perfekt in Pastell das Kissen @larapintaliving

Von Heike Faller und Valerio Vidali | Kein & Aber

„Freunde was uns verbindet“


Das allerallerschönste Buch, das ich über Freundschaft kenne. So wahr und warmherzig, voll Lebensfreude und Humor, ab und zu eine kleine Prise Melancholie. Und so, so schön illustriert. Übers Gipfel stürmen und Nachmittage lange Teetrinken. Übers Weltentdecken und Nächte durchtanzen. Über Schwäche zeigen und Vertrauen. Ich habe sofort Sehnsucht nach meinen besten Freundinnen gekriegt. Miss you und danke für eure Freundschaft. Erschienen @keinundaberverlag . Falls ihr das Buch zu Ostern verschenken wollt, bestellt es bitte bei einer unabhängigen Buchhandlung wie @buchhandlung_hornbostel. Die süßen Osterhasen und die Tischdecke gibt’s bei @harry_and_sally.

Von J. D. Vance | Harper

„Hillbilly Elegy“


Gewalt, Drogen, Kriminalität und ununterbrochenes Geschrei in der neighbourhood. Das ist die Welt im Rust Belt, in der J.D. Vance aufwächst. Seine Zuflucht ist seine Großmutter, ohne die es ihm vermutlich so gegangen wäre, wie vielen seiner Mitschüler. Kein Abschluss, lebenslange Hilfsjobs, wenn überhaupt. Das ist amerikanisches Prekariat, ohne Perspektive, ohne Ausbildung. Sie nennen sich Hillbillies. Der Autor übersteht die ständig wechselnden Männer seiner Mutter und schafft den Weg aus dem Sumpf. Er macht seinen Abschluss in Jura in Harvard und liefert eine messerscharfe Analyse dieses oft übersehenden Teils der amerikanischen Gesellschaft. Ich habe mich beim Lesen immer wieder dabei ertappt, dass ich dachte, die beschriebenen Menschen seien alle schwarz. Was für ein Klischee: Sie sind weiß und Hoffnung auf Eigenantrieb gibt es kaum. Vance ist natürlich das beste Gegenbeispiel. Er hat sich seinen amerikanischen Traum erfüllt. Er hatte eine stabile Bezugsperson, seine Mamaw, seine Großmutter. Ihr Porträt hat mich am meisten beeindruckt. Auch, dass Vance das Buch nicht von oben herab geschrieben hat, sondern voller Empathie. Er hat nie vergessen, wo er herkommt. Ein Buch für alle, die immer noch versuchen, die USA zu verstehen. Den Teil, den wir nicht im Blick haben, da er nicht in Kalifornien oder an der Ostküste liegt. Ein Schlüsselbuch fürs Wahljahr, good luck. Übrigens: Viele unabhängige Buchhandlungen liefern momentan versandkostenfrei, Lesekissen @larapintaliving .

Von Carol Rifka Brunt | Eisele Verlag

Unter Bäumen lesen, am besten im Schatten „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“


June ist 14. Sie würde am liebsten im Mittelalter leben, interessiert sich nicht für ihre Klassenkameraden und liebt über alles ihren Onkel Finn. Doch Finn, ein erfolgreicher Maler in New York, hat Aids und wird bald sterben, das weiß June. Er malt ein letztes Porträt: von June, die er Krokodil nennt, und ihrer Schwester, damit er noch möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen kann. Als er stirbt, bricht für June die Welt zusammen. Sie zieht sich noch mehr von allem zurück, bis sie eines Tages ein Päckchen mit Finns wunderschöner, russischer Teekanne erhält. Denn Finn hatte ein Geheimnis. June wusste, dass er schwul war, aber nichts von seinem Freund Toby, der nun Kontakt zu ihr aufnimmt. Für ihre Eltern war er tabu, da sie ihn für Finns Krankheit verantwortlich machten. Wie sich die beiden Trauernden vorsichtig annähern, ist eine der zartesten Geschichten über Freundschaft, die ich seit langem gelesen habe. Eifersucht und Vertrauen. Konkurrenz, Verständnis, Hilfsbereitschaft, auch Intrige. Unterschiedliche Erinnerungen 🐘- alles, was eine komplexe Freundschaft ausmacht, erleben die beiden im Geheimen. Denn Junes Eltern würden ihr den Kontakt sofort verbieten. Natürlich kann das nicht lange gutgehen und bald steht für die ganze Familie alles auf dem Spiel: die richtigen Werte im Leben, Ehrlichkeit – und Liebe. Aber das Buch ist noch mehr: ein Porträt der 80er Jahre. Plötzlich ist alles wieder da: Schulterpolster, die Musik – und eine unheimliche Krankheit, von der niemand genau weiß, wie man sich ansteckt. Herzzerreißend, wie sich June dreimal gründlich die Haare wäscht, nachdem Finn ihr einen Kuss auf den Scheitel gehaucht hat.

Von Angie Thomas | cbt Verlag

„The hate U give“


Was für eine Wucht, was für eine Geschichte. Starr lebt zwischen zwei Welten. Sie ist afroamerican und wohnt mit ihrer Familie in einem Viertel voller Gewalt, Drogen und krimineller Energie. Ihr Vater: ein geläuterter Drogendealer, der einen kleinen Lebensmittelladen betreibt, ihre Mutter: Krankenschwester. Sie wollen eine friedlichere Zukunft für ihre Tochter und schicken sie auf eine Privatschule in einem wohlhabenden Viertel. Dort hat Starr ihre Freundinnen, spielt Basketball, lebt ein ganz normales Highschool-Leben. Doch nachts schlagen in ihrer Nachbarschaft die Schüsse ein. Als ihr Jugendfreund Khalil von der Polizei erschossen wird, sitzt sie neben ihm im Auto. Danach gerät ihre Welt aus den Fugen. Das Buch hat mich sehr berührt. Wie Starrs Familie in ihrem Chaos-Viertel um Normalität kämpft. Wie sie versuchen, all der Gewalt und Verzweiflung die eigenen Werte entgegenzusetzen. Das ist bewundernswert, sie laufen nicht weg. Ein Buch wie ein wütender Rapsong, ein Mädchen, das mutig ist und für seinen toten Freund kämpft. Dabei um seine Identität ringt und seinen Platz in der Welt. Eine Familie, die Gewalt und Ungerechtigkeit die Stirn bietet, als alles längst aus dem Ruder läuft. Ein authentisches Buch mit eigener Stimme, in dem ein Rap-Song eine wichtige Rolle spielt: The Hate U Give. Der Hass, den man gibt, kommt immer zurück. Er kann daher nicht die Lösung sein. Angie Thomas hat für ihr Buch den deutschen Jugendliteraturpreis bekommen. Lest es und legt es danach euren Kindern auf den Tisch.

Von Colson Whitehead | Hanser Verlag

„Underground Rail Road“


Nach den Nickel Boys von Colson Whitehead hätte ich gewappnet sein müssen. Doch auch Underground Railroad, für das er den Pulitzerpreis bekam, hat mich in meine Träume verfolgt – einfach weil es wirklich so war. Die Sklavin Cora lebt auf einer Plantage, die die Hölle ist. Mit einem Gefährten wagt sie die Flucht, im Norden soll es Freiheit geben. Doch Flucht ist in einer Gesellschaft nicht vorgesehen, in der Sklaven grauenvoll gequält werden, ihr Leben nichts zählt, sie schuften müssen, bis sie tot umfallen. Ein Sklavenjäger heftet sich an ihre Fersen.
Als Leser liest man atemlos, weiß man doch, dass man sich bei Colson Whitehead nicht darauf verlassen kann, dass eine Geschichte gut ausgeht. Aber es gibt auch Engel und Helden: Die Underground Railroad, ein Netzwerk, das Sklaven auf ihrer Flucht in den Norden half, existierte wirklich. Whitehead verlegt sie buchstäblich unter die Erde. Ein fantastischer Kunstgriff, eine surreale Allegorie und wie gut geschrieben! Und trotzdem immer wieder: Sobald ein bisschen Hoffnung keimt, sind die Brandschatzer nicht weit.
Zum Thema passt Quentin Tarantinos genialer Film Django Unchained. Dort erhält ein befreiter Sklave den Nachnamen Freeman. Ein Allerweltsname, aber jetzt weiß ich, woher er kommt. Ein düsteres Kapitel amerikanischer Geschichte, mit Folgen bis heute, jeden Tag.

Von Michael Williams | Carlsen Verlag

„Der Tag der Krokodile“


Wie ihr wisst, lese ich zwischendurch auch gerne Jugendbücher. Dies ist eins, an das ich zwischendurch immer mal wieder denke, das ich extra aufgehoben habe, damit mein Sohn es lesen konnte, als er alt genug dafür war. Der Stoff ist hart, aber realistisch. Nur durch Zufall entkommen die Geschwister Jabu und Innocent, als ihr Dorf in Simbabwe von marodierenden Soldaten dem Erdboden gleichgemacht wird. Sie fliehen mit nicht viel mehr dabei als ihrem Fußball. Um nach Südafrika zu gelangen, müssen sie über den großen Strom Limpopo, in dem Krokodile leben. Aber am anderen Ufer sind sie alles andere als willkommen. Ihr Überlebenskampf geht dort weiter. Ich liebe dieses Buch, auch wenn es zwischendurch tieftraurig ist. Es ist ein Buch über Mut und Verzweiflung, die tiefe Liebe zwischen zwei Brüdern, über Afrika. Denn was wir in Europa so gerne vergessen: Millionen Menschen sind dort innerhalb ihres Kontinents auf der Flucht. Ich verrate natürlich nicht, wie das Buch endet. Nur so viel: Es geht um Fußball, kleine Glücksmomente, wenn eine zusammengewürfelte Truppe aus Gestrandeten auf einem staubigen Dorfplatz kickt. Es geht um das Schnüffeln von Klebstoff, aber auch um unendliche Tapferkeit. Vor allem aber um den Traum der Regenbogen-Nation, dass nur ein Land, in dem alle Völker zusammenhalten, etwas Großes schaffen kann. Und nur eine Fußballmannschaft, in der gemeinsames Spielen wichtiger ist als woher Du kommst, hat auf der Obdachlosen-WM eine Chance. Das Buch ist beeindruckend gut geschrieben. Mein Sohn, ein großer Fußball-Fan, hat es in einem Rutsch gelesen. Und weiß jetzt, dass Afrika nicht nur der Erdteil ist, auf dem Löwen leben. Erschienen @carlsenverlag. Das wunderschöne Kissen, auf dem ich das Buch fotografiert habe, ist übrigens von @larapintaliving.

Von Hanna Jansen | Peter Hammer Verlag

„Herzsteine“


Noch ein Liebling-Jugendbuch über Afrika, diesmal über Ruanda. Eines Tages lässt Fe ihren deutschen Mann und ihr gemeinsames Kind auf Sylt zurück und geht zurück in ihre Heimat Ruanda. Ein halbes Jahr später besuchen ihr Mann und ihr Sohn sie dort. Der 16-jährige Sam versucht zu verstehen, warum seine Mutter lieber in einer Hütte mit festgestampftem Lehmboden lebt als bei ihnen in Deutschland. Er beginnt zu ahnen, dass in Ruanda etwas passiert ist, das sich nicht so leicht in Worte fassen lässt. Alles ist anders, das Licht, die Gerüche, es ist aufregend. Ein gleichaltriger Ruander nimmt ihn mit auf den pulsierenden Markt in Kigali, gemeinsam gehen sie in die Disco. Zusammen mit seiner Mutter fährt er aufs Land in das Dorf, aus dem ihre Familie stammt. Dort bekommt er eine Kuh geschenkt. Er besucht Gisozi, die Erinnerungsstätte an den Völkermord. Langsam versteht er, dass die Geschichte Ruandas etwas mit dem Leben seiner Mutter heute zu tun hat. Und langsam kommt er seinen eigenen Wurzeln näher. Das alles ist aus Sicht von Sam geschrieben, lakonisch, treffsicher, mit scharfer Beobachtungsgabe. Aber auch die tastenden Gedanken der Mutter sind eingestreut. Wie ist es, wenn die eigene Mutter aus einer komplett anderen Welt stammt? Sie manche Dinge nie erzählen kann und wird? Dieses Buch lässt manches in der Schwebe, es zieht einen rein in das Land mit den vielen Hügeln, berührt mit einer ganz besonderen Familiengeschichte. Schön beim Lesen: Das handbemalte Kissen ist wieder von @larapintaliving.

Holly Goldberg Sloan und Meg Wolitzer | Carl Hanser Verlag

Braucht ihr noch ein Blitzgeschenk für eure Kinder? „An Nachteule von Sternhai“


Here we go: Die Väter von Bett sind Avery haben sich ineinander verliebt. Der eine wohnt in Kalifornien, der andere in New York. Jetzt wollen sie, dass ihre zwölfjährigen Töchter dicke Freundinnen werden und melden sie für den Sommer zum gemeinsamen Summercamp an. Das sehen die beiden aber überhaupt nicht ein. In einem regen Emailverkehr beteuern sie sich gegenseitig, dass sie alles andere vorhaben, als sich anzufreunden. Ihr Plan fürs Summercamp: einfach nicht miteinander reden. Da hilft es, dass sie obendrein unterschiedlicher nicht sein könnten. Draufgängerin, die das Meer liebt und gerne aus der Reihe tanzt, meets Leseratte, die die sich über alles Sorgen macht, Wassersport hasst, und im entscheidenden Moment weit über sich hinaus wächst. Vor allem aber wollen beide ihren Dad ganz für sich allein. Ein intelligentes, warmherziges Jugendbuch, das mit viel Humor zeigt, dass es verschiedene Arten von großartigen Familien gibt. Auch wenn sie manchmal nicht auf Anhieb funktionieren. Sich bei eigenwilligen Teenagern nicht von den Eltern verordnen lassen. Eine ebenso liebevolle wie skurrile Eigendynamik entwickeln. Und zum Schluss eh alles anders kommt als geplant.

Von John Lanchester | Klett-Cotta Verlag

„Die Mauer“


Es ist eiskalt auf der Mauer, die ganz Großbritannien umzieht, trostlos und grau. Sie ist der einsamste Ort der Welt, trutzig, so gut wie unüberwindbar. Ein Wall gegen die Fremden, die vom Meer her kommen, weil ihre Länder unbewohnbar sind. Sie kommen nachts, in undurchdringlichem Nebel, sie haben nichts mehr zu verlieren. Joseph Kavanagh tritt wie jeder Schulabgänger der Insel seinen zweijährigen Dienst auf der Mauer an. Viele überleben ihn nicht. Unterkühlung, die Attacken der Fremden und für jeden Eindringling, der es über die Mauer schafft, werden sechs Verteidiger aufs Meer verbannt – für immer. Nüchtern, rau und gerade dadurch poetisch beschreibt Autor John Lancaster das Endzeitszenario. Was können die Menschen dieser Düsternis entgegen setzen? Joseph lernt Hifa auf der Mauer kennen. Ein Lichtblick, ein bisschen menschliche Wärme. Aber beide wissen, dass jederzeit ein Angriff droht. Das Buch ist grausam und hat mich lange beschäftigt. Eine Dystopie, aber um sie weit weg in die ferne Zukunft zu schieben, ist sie zu nah an uns dran. Die Mauer soll nicht nur die Fremden abhalten, sondern auch das Meer, das unaufhaltsam steigt. Vom Land aus kann man es nicht mehr sehen. Wenn die Menschen Sehnsucht danach haben, schauen sie sich Surffilme aus längst vergangenen Zeiten an. Das Schicksal einer abgeschotteten Insel als Symbol für den ganzen Westen? Diese Lesart liegt nahe, zum Nachdenken bringt sie allemal. Das Buch ist gnadenlos, dabei nervenzerfetzend spannend und hervorragend geschrieben. Ich habe es nicht mehr aus der Hand gelegt. Erschienen @klettcottaverlag .

Von Colson Whitehead | Übersetzt von xxxx | Hanser Verlag

Die Nickel Boys


Was passiert, wenn eine Gruppe absolute Macht über eine andere hat, läuft nach grausamen Mechanismen ab. Die Starken nehmen den Schwachen ihre Würde, zerbrechen sie. Ohne einen Funken schlechten Gewissen, im selbstzufrieden Bewusstsein, einer überlegenen Rasse anzugehören. Diese Mechanismen wirken heute wie damals. In geschlossenen Gesellschaften ohne Kontrolle tun sich Abgründe auf. Das war in Abu Graib so und viele Missbrauchsskandale laufen nach demselben Muster ab. Die Opfer verstummen und von den Folgen erholen sie sich ihr ganzes Leben nicht, wenn sie überhaupt überleben. Elwood fragt in der Anstaltsschule nach besseren Büchern. Dann greift er ein, um einen Streit zu schlichten. Fatale Fehler. Es gibt ein weißes Haus, in dem gemaßregelt wird, wie zu alten Zeiten der Sklaverei.

Der Leser bleibt verstört zurück. Auch weil die Geschichte bis in die Gegenwart wirkt. Junge Schwarze mit Hoodie fallen einem ein, die auf Asphalt liegen. Ein anderes großartiges Buch, The Hate U Give, von Angie Thomas, hat uns diese aktuelle Welt beschrieben. Man fragt sich, wie sich eine Gesellschaft überhaupt von solchen Wunden erholen kann. Die Nickel Boys geben ihre eigene Antwort. 

Von Jessica J. Lee | Berlin Verlag

Mein Jahr im Wasser Tagebuch einer Schwimmerin


Kanada ist das Land der Wälder, Berge, zweier Meere und, klar, unzähliger Seen. Kein Wunder, dass die Kanadierin Jessica J. Lee Heimweh hat, als sie nach Berlin zieht, um ihre Doktorarbeit zu beenden. Häuser, Kopfsteinpflaster, pralles Leben, alles schön, aber wo ist die Weite, die Freiheit, die Lee für klares Denken braucht? Außerdem hat sie tiefen Liebeskummer und alles zusammen lässt sie in dunkle Löcher fallen. Also schwimmt sie, schwimmt für ihr Leben, für ihr Wohlbefinden, für eine Struktur im Tag, gegen das Alleinsein: schwimmt draußen in Seen, jeden Tag, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit – in allen, fast allen Seen Berlins und Brandenburgs. In klaren und in tiefen Gewässern, in Wasser, das weich ist und tröstet. In Seen, deren Algen über ihre Beine streichen – unheimlich. In der tiefblauen Havel, in geschichtsträchtigem Wasser, von dem es in Berlin so viel gibt. Sie zeltet an Familienseen und springt in einsame Gewässer, in denen sie sich trotzdem zu Hause fühlt. Sie schwimmt im Herbst, wenn die Luft schon kälter ist als das Wasser, im eiskalten Winter, wenn sie sich erst ein Loch ins Eis hacken muss. Danach reine Euphorie. Lee schwimmt sich frei. Auf dem Rücken paddelnd schaut sie in den Himmel, gewinnt Klarheit über Gedanken und Gefühle. Dabei gewinnt sie eine Unabhängigkeit und Stärke, für die ich sie bewundere. Ein Buch für leidenschaftliche Schwimmer und all diejenigen, die auch in Krisen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Auch davon erzählt dieses Buch: aufmerksam, inspirierend und ein wenig melancholisch. Mit Tipps und Karten zu 52 Berliner Seen. Das Buch erschien zuerst in England. Auf deutsch im Berlin Verlag.

Von Elizabeth H. Winthrop | C. H. Beck Verlag

„Mercy Seat“


Louisiana, 1943. Ein schwarzer Junge ist zum Tode verurteilt. Angeblich hat Will ein weißes Mädchen vergewaltigt. Er sagt, dass es nicht stimmt, sie haben sich geliebt. Das Mädchen kann dazu nichts mehr sagen. Sie hat sich am Tag, nachdem sie entdeckt wurden, erschossen. Ein Staatsanwalt, der erpresst wird, um das Urteil zu fällen. Seine Frau, die glaubt, dass es zutiefst Unrecht ist. Zwei Männer, die auf einem Truck den elektrischen Stuhl heran karren. Ein Vater, der einen Kredit für den Grabstein seines Sohnes aufnimmt, und ein Maultier, das zu alt ist, um diesen zu ziehen. Eine verblasene Tankstelle, flirrende Baumwollfelder, Häuser mit Veranda und Fliegentür. Südstaatenschwüle, Hass und Verachtung. Aber auch Elternliebe und Menschen mit riesengroßem Herz. Nell, die Will am Abend vor der Hinrichtung sein Wunschessen kocht. Ein Kind, das sich einem gewalttätigen Rassisten in den Weg stellt. Ein Pfarrer, der sich um verlassene Seelen kümmert, und selbst nicht mehr weiß, woran er glauben soll. Und ein Ehepaar, das nachts losfährt, um einem Fremden zu helfen, ohne zu ahnen, wohin sie das führt. Die Stadt brodelt, als der Abend der Hinrichtung naht. Das Buch ist so schmerzhaft, dass man beim Lesen zwischendurch stockt. Es ist so unglaublich gut geschrieben, dass man es trotzdem nicht aus der Hand legt. Bis zum Schluss hofft, dass ein Wunder geschieht. Elisabeth H. Winthrop wird mit William Faulkner verglichen. Mit „Mercy Seat“ hat sie ein Buch geschrieben, dass ich nie, nie wieder vergessen werde.

Von Francesca Melandri | Wagenbach Verlag

Lektüre im Schnee „Alle, außer mir“


Ein Buch über Italien und Äthiopien. Über Kolonialismus und Rom. Über drei Familien und einen schillernden Patriarchen. Über Flüchtlinge und ihre Odyssee durch die Wüste. Es geht um die Geschichte Äthiopiens, über die wir so wenig wissen. Um Italien zwischen den Weltkriegen. Um Kaiser und Kommunisten, Faschisten und ihre Schergen. Korruption und Moral, Liebe und Loyalität. Darum, dass nie etwas eindeutig schwarz oder weiß ist. Und alles beginnt, als eines Tages die römische Lehrerin Ilaria nach Hause kommt und vor ihrer Tür ein junger Äthiopier sitzt. Er behauptet, der Enkel ihres Vaters zu sein. Sie macht sich auf die Suche nach dem verborgenen Teil ihrer Familiengeschichte und kann kaum glauben, was sie entdeckt. Eine Geschichte, die exemplarisch für all die Länder steht, die in Afrika Kolonien hatten. Dort so geherrscht haben, dass man es beim Lesen manchmal kaum ertragen kann. Die Autorin Francesca Melandri holt diese Geschichte nach Europa, verwebt sie in eine großartige Saga, an deren Ende zwei Dinge klar sind: Niemand verlässt freiwillig für immer seine Heimat. Und die Geschichte holt einen immer wieder ein. Große Literatur lässt einen die Welt mit anderen Augen sehen. Das ist hier so.

Von Mathijs Deen | Mareverlag

Lesen im Schnee „Unter Menschen“


Junger Bauer mit 80 ha am Deich sucht Frau. Frau aus der Stadt sucht Haus am Meer. Er findet, dass sie zu viel redet und alles unnötig kompliziert macht. Sie schreibt eine lange Liste mit Bedingungen, damit sie bleibt. Jan ist das Meer egal, es war halt immer schon da. Er interessiert sich für seine Kartoffeln, aber im Winter ist es ihm zu still. Sie, Will, steigt jeden Tag auf den Deich und atmet das Meer und die Weite ein. Sie probieren es. Das Buch ist ein psychologisches Porträt von zwei eigensinnigen Seelen. Von zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, beide so verletzlich und ehrlich, dass es beim Lesen manchmal weh tut. Der Schauplatz ist gigantisch. Ein alter Hof, drumherum – nichts. Nein, das stimmt nicht, denn die Natur ist großartig. Einmal zieht eine Windhose vorbei, ein anderes Mal lässt eine Springflut die Nordsee bis zum Deich steigen, und einmal liegt Schnee bis zum Horizont. Das Ganze ist so gut geschrieben, dass man sich morgens schon darauf freut, später am Tag weiterzulesen. Wer die Marsch kennt, riecht die salzige Luft. Wer sie noch nicht kennt, möchte danach hin.

Von Zsuzsa Bánk | S. Fischer Verlag

Unter Bäumen lesen – oder im Lieblingscafé „Schlafen werden wir später“

Zwei Freundinnen seit Kindheitstagen, die ihr Leben in zwei unterschiedliche Ecken Deutschlands geführt hat. Im Schwarzwald lebt Johanna, in einem Hexenhäuschen schreibt sie an ihrer Doktorarbeit und arbeitet als Lehrerin. Samstags hilft sie im „Verzauberten Garten“ und bindet die schönsten naturnahen Sträuße. Ihr Leben ruhig, ihr Innenleben reich. Die beste Freundin Mártha lebt in Frankfurt. Schriftstellerin, hektisches Großstadtleben, drei Kinder und nie genug Zeit um zu schreiben. Mit ihrem Mann liefert sie sich erbitterte Kämpfe, wer wann arbeiten darf. Lesereise, Kinder mit Grippe, chronische Geldknappheit, der Alltag scheint sie schier zu zerreißen. Die Freundinnen seit Ewigkeiten schreiben sich jeden Tag eine E-Mail, auch wenn sie noch so müde sind, denn „schlafen werden sie später“. Selten habe ich einen so ehrlichen, poetischen, sensiblen, empathischen Briefwechsel zwischen zwei Menschen gelesen. Was nicht alles passiert in ihrer beiden Leben: Freundschaften und Kinderlachen, große Lieben und bittere Trennungen, Sommer in Ungarn und Herbst am Bodensee. Verzweiflung und Glück. Sie tauschen sich über alles aus: Familie, Männer, Musik und Bücher, immer wieder Bücher. Ab und zu möchte man ihnen zurufen: Entspannt Euch auch mal, irgendwie wird das Leben schon klappen. Aber gleichzeitig weiß man, dass das heute nicht so einfach geht, wenn man versucht, das ganze pralle Leben unter einen Hut zu kriegen. Die große Herausforderung in jeder Familie. Die Angst, den eigenen Ansprüchen, den Kindern, dem Leben nicht gerecht zu werden. Das schöne Buch ist damit auch ein Spiegel unserer Zeit, jeder wird sich darin wiederfinden. Ich beschließe sofort, morgen meiner besten Freundin eine lange ausführliche E-Mail zu schreiben. Ein Hoch auf die Freundschaft!

Von Alan Rusbridger | Secession Verlag

Unter Bäumen lesen – und dabei Chopin hören „Play It Again“


Ein Jahr zwischen Noten und Nachrichten
Träumst Du auch davon, etwas Neues anzufange, und denkst immer, Du hast keine Zeit? Oder hast Du Sehnsucht, Dein liebstes Kindheitshobby wieder aufzunehmen und meinst, dafür sei es eh schon zu spät? Dann höre Chopin und lies dieses Buch. Alan Rusbridger @arusbridger nimmt uns mit auf eine außergewöhnliche musikalische Reise. Einmal im Jahr trifft sich der damalige Guardian-Chefredakteur mit Gleichgesinnten in Südfrankreich zu einem Klavierkurs. Allein das ist ein Traum. Auf dem Abschlusskonzert hört er Chopins Ballade Nr.1 in g-Moll, op. 23, dieses sagenhaft schöne, sagenhaft schwer zu spielende Klavierstück: Es entführt einen in andere Welten. Kaum wieder zuhause setzt sich Rusbridger an das Werk, das ihn von vorn bis hinten überfordert. Takt für Takt, manchmal Note für Note tastet er sich voran. Zeit hat er natürlich – eigentlich- auch nicht. Murdoch-Abhörskandal, WikiLeaks, kein Tag ist Ruhe. Aber: Jeden Morgen steht er früher auf, als er sonst müsste, spielt 20 Minuten Klavier und stimmt sich so auf seinen Tag ein. Auch der musikalische Laie erahnt den Reichtum dieser mal zarten, mal aufwühlenden Ballade. Welche Tonart, welcher Fingersatz und immer wieder die unspielbare Coda. Bemerkenswert uneitel schreibt Rusbridger vom Scheitern und immer wieder Weitermachen, denn er hat sich ein großes Ziel gesetzt: Nach einem Jahr möchte er vor seinen Freunden die Chopin-Ballade spielen. Längst ist es soweit, dass wir, die Leser, gleich morgen unser Instrument aus Kindertagen wieder hervorholen möchten. Einmal Gitarre im Quartett spielen, das wär‘s.

Von Robert Mcfarlane | Naturkunden Verlag

Unter Bäumen lesen „Karte der Wildnis“


Liebst Du es auch, draußen zu sein? Denkst Du oft daran, wie klar Luft riechen kann, z.B. in den Bergen? Dann lies‘ dieses Buch, es ist Balsam für die gehetzte Seele. „Wind zog auf, und ich beschloss, in den Wald zu gehen.“ So beginnt ein außergewöhnliches Buch von Robert Macfarlane @robgmacfarlane, der sich aufmacht, die wilden Ecken Großbritanniens zu entdecken, sie zu spüren mit jeder Faser seines Geists und Körpers. Er segelt zur entlegenen Insel Ynys Enlli und sucht sich im Dunklen einen Schlafplatz oberhalb der tosenden Brandung. Er durchwandert schottische Hochmoore und besteigt den abweisenden Ben Hope. Er folgt Habichten im Süden Englands, lauscht dem Wind, sammelt Steine am Strand und überlegt, wem er sie schenken kann. Macfarlane erzählt von den ersten Pilgern, die in der irischen Wildnis als Einsiedler lebten. Von Schneehasen und der Farbe ihres Fells. Selten habe ich einen Autor gelesen, der so kundig und gleichzeitig so poetisch über Natur schreibt: was sie mit ihm macht und vielleicht auch mit uns, wenn wir sie lassen. Der schreibt, wie sich das Licht im Wasser bricht, Wildnis auch hinterm eigenen Haus zu finden ist. Der bei mir die Sehnsucht weckt, sofort aufzubrechen und meine eigene Karte 🗺 der Wildnis zu suchen. Gleich morgen!
Schöner kann Nature Writing nicht sein.