Unter Bäumen lesen, am besten im Schatten „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“

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Von Carol Rifka Brunt | Eisele Verlag

June ist 14. Sie würde am liebsten im Mittelalter leben, interessiert sich nicht für ihre Klassenkameraden und liebt über alles ihren Onkel Finn. Doch Finn, ein erfolgreicher Maler in New York, hat Aids und wird bald sterben, das weiß June. Er malt ein letztes Porträt: von June, die er Krokodil nennt, und ihrer Schwester, damit er noch möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen kann. Als er stirbt, bricht für June die Welt zusammen. Sie zieht sich noch mehr von allem zurück, bis sie eines Tages ein Päckchen mit Finns wunderschöner, russischer Teekanne erhält. Denn Finn hatte ein Geheimnis. June wusste, dass er schwul war, aber nichts von seinem Freund Toby, der nun Kontakt zu ihr aufnimmt. Für ihre Eltern war er tabu, da sie ihn für Finns Krankheit verantwortlich machten. Wie sich die beiden Trauernden vorsichtig annähern, ist eine der zartesten Geschichten über Freundschaft, die ich seit langem gelesen habe. Eifersucht und Vertrauen. Konkurrenz, Verständnis, Hilfsbereitschaft, auch Intrige. Unterschiedliche Erinnerungen 🐘- alles, was eine komplexe Freundschaft ausmacht, erleben die beiden im Geheimen. Denn Junes Eltern würden ihr den Kontakt sofort verbieten. Natürlich kann das nicht lange gutgehen und bald steht für die ganze Familie alles auf dem Spiel: die richtigen Werte im Leben, Ehrlichkeit – und Liebe. Aber das Buch ist noch mehr: ein Porträt der 80er Jahre. Plötzlich ist alles wieder da: Schulterpolster, die Musik – und eine unheimliche Krankheit, von der niemand genau weiß, wie man sich ansteckt. Herzzerreißend, wie sich June dreimal gründlich die Haare wäscht, nachdem Finn ihr einen Kuss auf den Scheitel gehaucht hat.