Monat: März 2020

Von J. D. Vance | Harper

„Hillbilly Elegy“


Gewalt, Drogen, Kriminalität und ununterbrochenes Geschrei in der neighbourhood. Das ist die Welt im Rust Belt, in der J.D. Vance aufwächst. Seine Zuflucht ist seine Großmutter, ohne die es ihm vermutlich so gegangen wäre, wie vielen seiner Mitschüler. Kein Abschluss, lebenslange Hilfsjobs, wenn überhaupt. Das ist amerikanisches Prekariat, ohne Perspektive, ohne Ausbildung. Sie nennen sich Hillbillies. Der Autor übersteht die ständig wechselnden Männer seiner Mutter und schafft den Weg aus dem Sumpf. Er macht seinen Abschluss in Jura in Harvard und liefert eine messerscharfe Analyse dieses oft übersehenden Teils der amerikanischen Gesellschaft. Ich habe mich beim Lesen immer wieder dabei ertappt, dass ich dachte, die beschriebenen Menschen seien alle schwarz. Was für ein Klischee: Sie sind weiß und Hoffnung auf Eigenantrieb gibt es kaum. Vance ist natürlich das beste Gegenbeispiel. Er hat sich seinen amerikanischen Traum erfüllt. Er hatte eine stabile Bezugsperson, seine Mamaw, seine Großmutter. Ihr Porträt hat mich am meisten beeindruckt. Auch, dass Vance das Buch nicht von oben herab geschrieben hat, sondern voller Empathie. Er hat nie vergessen, wo er herkommt. Ein Buch für alle, die immer noch versuchen, die USA zu verstehen. Den Teil, den wir nicht im Blick haben, da er nicht in Kalifornien oder an der Ostküste liegt. Ein Schlüsselbuch fürs Wahljahr, good luck. Übrigens: Viele unabhängige Buchhandlungen liefern momentan versandkostenfrei, Lesekissen @larapintaliving .

Von Carol Rifka Brunt | Eisele Verlag

Unter Bäumen lesen, am besten im Schatten „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“


June ist 14. Sie würde am liebsten im Mittelalter leben, interessiert sich nicht für ihre Klassenkameraden und liebt über alles ihren Onkel Finn. Doch Finn, ein erfolgreicher Maler in New York, hat Aids und wird bald sterben, das weiß June. Er malt ein letztes Porträt: von June, die er Krokodil nennt, und ihrer Schwester, damit er noch möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen kann. Als er stirbt, bricht für June die Welt zusammen. Sie zieht sich noch mehr von allem zurück, bis sie eines Tages ein Päckchen mit Finns wunderschöner, russischer Teekanne erhält. Denn Finn hatte ein Geheimnis. June wusste, dass er schwul war, aber nichts von seinem Freund Toby, der nun Kontakt zu ihr aufnimmt. Für ihre Eltern war er tabu, da sie ihn für Finns Krankheit verantwortlich machten. Wie sich die beiden Trauernden vorsichtig annähern, ist eine der zartesten Geschichten über Freundschaft, die ich seit langem gelesen habe. Eifersucht und Vertrauen. Konkurrenz, Verständnis, Hilfsbereitschaft, auch Intrige. Unterschiedliche Erinnerungen 🐘- alles, was eine komplexe Freundschaft ausmacht, erleben die beiden im Geheimen. Denn Junes Eltern würden ihr den Kontakt sofort verbieten. Natürlich kann das nicht lange gutgehen und bald steht für die ganze Familie alles auf dem Spiel: die richtigen Werte im Leben, Ehrlichkeit – und Liebe. Aber das Buch ist noch mehr: ein Porträt der 80er Jahre. Plötzlich ist alles wieder da: Schulterpolster, die Musik – und eine unheimliche Krankheit, von der niemand genau weiß, wie man sich ansteckt. Herzzerreißend, wie sich June dreimal gründlich die Haare wäscht, nachdem Finn ihr einen Kuss auf den Scheitel gehaucht hat.