Monat: November 2019

Von John Lanchester | Klett-Cotta Verlag

„Die Mauer“


Es ist eiskalt auf der Mauer, die ganz Großbritannien umzieht, trostlos und grau. Sie ist der einsamste Ort der Welt, trutzig, so gut wie unüberwindbar. Ein Wall gegen die Fremden, die vom Meer her kommen, weil ihre Länder unbewohnbar sind. Sie kommen nachts, in undurchdringlichem Nebel, sie haben nichts mehr zu verlieren. Joseph Kavanagh tritt wie jeder Schulabgänger der Insel seinen zweijährigen Dienst auf der Mauer an. Viele überleben ihn nicht. Unterkühlung, die Attacken der Fremden und für jeden Eindringling, der es über die Mauer schafft, werden sechs Verteidiger aufs Meer verbannt – für immer. Nüchtern, rau und gerade dadurch poetisch beschreibt Autor John Lancaster das Endzeitszenario. Was können die Menschen dieser Düsternis entgegen setzen? Joseph lernt Hifa auf der Mauer kennen. Ein Lichtblick, ein bisschen menschliche Wärme. Aber beide wissen, dass jederzeit ein Angriff droht. Das Buch ist grausam und hat mich lange beschäftigt. Eine Dystopie, aber um sie weit weg in die ferne Zukunft zu schieben, ist sie zu nah an uns dran. Die Mauer soll nicht nur die Fremden abhalten, sondern auch das Meer, das unaufhaltsam steigt. Vom Land aus kann man es nicht mehr sehen. Wenn die Menschen Sehnsucht danach haben, schauen sie sich Surffilme aus längst vergangenen Zeiten an. Das Schicksal einer abgeschotteten Insel als Symbol für den ganzen Westen? Diese Lesart liegt nahe, zum Nachdenken bringt sie allemal. Das Buch ist gnadenlos, dabei nervenzerfetzend spannend und hervorragend geschrieben. Ich habe es nicht mehr aus der Hand gelegt. Erschienen @klettcottaverlag .

Von Colson Whitehead | Übersetzt von xxxx | Hanser Verlag

Die Nickel Boys


Was passiert, wenn eine Gruppe absolute Macht über eine andere hat, läuft nach grausamen Mechanismen ab. Die Starken nehmen den Schwachen ihre Würde, zerbrechen sie. Ohne einen Funken schlechten Gewissen, im selbstzufrieden Bewusstsein, einer überlegenen Rasse anzugehören. Diese Mechanismen wirken heute wie damals. In geschlossenen Gesellschaften ohne Kontrolle tun sich Abgründe auf. Das war in Abu Graib so und viele Missbrauchsskandale laufen nach demselben Muster ab. Die Opfer verstummen und von den Folgen erholen sie sich ihr ganzes Leben nicht, wenn sie überhaupt überleben. Elwood fragt in der Anstaltsschule nach besseren Büchern. Dann greift er ein, um einen Streit zu schlichten. Fatale Fehler. Es gibt ein weißes Haus, in dem gemaßregelt wird, wie zu alten Zeiten der Sklaverei.

Der Leser bleibt verstört zurück. Auch weil die Geschichte bis in die Gegenwart wirkt. Junge Schwarze mit Hoodie fallen einem ein, die auf Asphalt liegen. Ein anderes großartiges Buch, The Hate U Give, von Angie Thomas, hat uns diese aktuelle Welt beschrieben. Man fragt sich, wie sich eine Gesellschaft überhaupt von solchen Wunden erholen kann. Die Nickel Boys geben ihre eigene Antwort.